Die Sicht des Wabi Sabi ist ein philosophischer und kultureller Ansatz, der untrennbar mit der japanischen Kultur verwoben ist. Er ist sozusagen kulturimmanent in Japan. Heute würde man ihn wahrscheinlich als ganzheitlichen Ansatz betrachten.
Möchte man die japanische Kultur verstehen, muss man auch Wabi Sabi verstehen und das ist für Westler nicht leicht zu erfassen.
Man kann sich ihm nur annähern, den Sinn des Wabi Sabi umrunden, so wie ein Pilger den Kailash umrundet. Menschen aus der westlichen Kultur haben sich auf eine Definition geeinigt, die das Wesen des Wabi Sabi zu beschreiben versucht: Die Kunst des Unvollkommenen.
Japaner legen sich da weniger fest, bzw. die Grenzen sind eher fließend, müssen es wohl auch sein, da es auch das Wesen des Wabi Sabi ist. Wabi Sabi ist zwar ein ästhetisches Prinzip der japanischen Kultur, jedoch keine Stilrichtung, sondern vielmehr eine Anschauungsart die Dinge wahr zu nehmen. Man könnte auch sagen, Wabi Sabi verweist auf das Unsichtbare in den sichtbaren Dingen. Es lässt uns etwas sehen oder auch nur erahnen, was jenseits des Sichtbaren liegt. Es kann uns ein Gefühl der Melancholie und der Sehnsucht nach tiefer Spiritualität geben, einfach in dem wir in einem Ding oder der Natur erkennen, dass alles im Werden und gleichzeitig im Vergehen ist, dass es authentisch, Wahr und das es Unvollkommen Vollkommen ist. Darin liegt die Schönheit und die Größe dieser Ästhetik.
Leonard Koren ("Wabi Sabi für Künstler, Architekten und Designer") beschreibt es so: "Der Anblick von natürlicher und künstlerischer Schönheit berührt uns und verändert fühlen wir uns einen Moment im Einklang mit der Welt - ein Zustand der Gnade."
Wabi Sabi ist eng mit dem buddhistischen Zen verbunden und geht offiziell auf den buddhistischen Zen Mönch Sen No Rikyu des 16. Jahrhunderts zurück. Die japanische Gesellschaft war zu dieser Zeit der dekadent zugespitzten höfischen Ästhetik überdrüssig, von der kein neuer Impuls mehr ausging und die erstarrt war. Man sucht nun wieder die Einfachheit und die Natürlichkeit der Dinge, eine neue Ästhetik und Sichtweise, die in der Lage war zu berühren, wie etwa ein Haiku, das Leuchten des Mooses oder die verwitterte Schönheit eines rostigen Bleches.
Obwohl Wabi Sabi in allen künstlerischen oder natürlichen Gegenständen erscheinen kann, ist diese Ästhetik in seiner reinsten Form mit der japanischen Keramik verbunden. Speziell in der japanische Keramik vereinigigen sich Wabi Sabi Qualitäten zu höchster Form. Daher ist die Keramik in Japan eine hochgeschätzte Kunstform, die weit über die Gebrauchskeramik und Handwerk hinausgeht. Diese Unterscheidung in Gebrauchskeramik und Keramik als Kunstform macht man in Japan nicht. Die Brenntechnik des Holzbrandes für Keramik spielt bei dem Hervorbringen von Wabi Sabi Qualitäten eine ganz entscheidende Rolle. Der Holzbrand, der über mehrere Tage und Nächte geht, gibt der Keramik seine ganz besondere Patina. Über die Ascheanflug Glasur entstehen beim Verbrennungsprozeß des Holzes im Ofen sehr besondere Oberflächen, die einmalig sind und daher nicht repruduzierbar.
Durch die Verbindung von Hitze, Flammen und Aschen entstehen einmalige keramische Oberflächen, die den Wabi Sabi Charakter besonders hervorbringen können.
Die Sichtweise der Ästhetik des Wabi Sabi hat auch in der modernen westlichen Kunst seine Spuren hinterlassen. Etliche zeitgenössische Künstler, ob Maler oder in anderen Disziplinen der Kunst, deuten Dinge nur an oder Zerstören sie teilweise wieder. Auflösung und Zerstörung ist zu einem festen Bestandteil des Kunstschaffens geworden. Inhaltlich mag diese Art des Kunstschaffens zwar anders als die japanische Wabi Sabi Ästhetik verstanden werden, dennoch beinhaltet die westliche Kunst diese Element des Unvollendeten oder in Auflösung begriffenen Prozeßes.
Selbst bei den "Sklaven" Michelangelos wird das nicht fertige, das schlafende, der Darstellung zum Gestaltungselement, in dem das nicht dargestellte und das noch werdende genauso seine Berechtigung erhält, wie das konkret ausgestaltete.